
Kritisch entwirrt Hannah Ryggen das Knäul verkrusteter Denkstrukturen gegenüber Frauen und ihren Rollen, die sich die Jahrhunderte hinweg formten. Auch wenn die Künstlerin einer anderen Zeit entstammt, übermitteln ihre Wandteppiche brandaktuelle Botschaften, die einer politischen Lesart bedürfen.
Meine Bachelorarbeit untersucht zwei ihrer Werke näher und hinterfragt, inwieweit Ryggen retrospektiv dem textilen Aktivismus in der Kunst zuordenbar ist. Zudem offenbart ein Exkurs in die Erwerbstätigkeit von Frauen in den Webereien des 19. Jahrhunderts die enge Verwobenheit des Textilen mit seiner geschlechtsspezifischen Historie. Weiter vergleicht die Arbeit Ryggen mit den Werken zweier zeitgenössischer Künstlerinnen. Das Ziel der Abschlussarbeit ist es, ihre politischen Botschaften noch zeitgemäßer zu lesen, als es bisher der Fall war.
Diese Bachelorarbeit entstand als Abschluss meines Studiums der Kunstgeschichte und Geschichte an der Technischen Universität in Dresden. Die Idee zu diesem Thema entwickelte ich nach der Vorlesung bei Frau Prof. Susanne Schötz zur „Geschichte der Frauenarbeit von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart“. Sei es im Handwerk, in der Kunst oder in der Wissenschaft: Über die Jahrhunderte hinweg wurden arbeitende Frauen diskriminiert und vom Arbeitsmarkt ausgegrenzt. Insbesondere im 19. Jahrhundert galt es als „natürliche Rolle“ der Frau, Hausfrau und Mutter zu sein. Frauen durften nicht über sich selbst bestimmen, eine politische Teilhabe war völlig ausgeschlossen. Sie waren quasi unsichtbar. Im Ergebnis zweifeln wir Frauen bis heute immer wieder am Wert unserer eigenen Arbeit.
Textiler Aktivismus ist ein Weg, intelligent und feinfühlig die blinden Flecken nicht nur in der Frauengeschichte und der daraus resultierenden Ungleichheit zwischen Mann und Frau aufzuspüren, sondern generell Ungerechtigkeit und Willkür aufzuzeigen und aufmerksamkeitsstark sichtbar zu machen.
Ich hoffe, diese Bachelorarbeit trägt dazu bei, gesellschaftliche Debatten über Rollenbilder und Diskriminierung besser zu verstehen. (Kunst-)Geschichte können wir nicht neu schreiben. Aber wir können Rollen und Geschlechter als erlernt und konstruiert begreifen.
Einleitung
Vom umhäkelten Panzer im urbanen Raum bis hin zur Maske mit dem Aufdruck „I can’t breathe“ als Reaktion auf die letzten Worte von George Floyd, der am Boden liegend von einem weißen Polizisten erstickt wurde: Textilien mit gesellschaftlicher Relevanz ziehen sich wie ein roter Faden durch die Menschheitsgeschichte. Flaggen, die bestickten „Banner der britischen Sufragetten“¹, Mützen in Form von Katzenohren wie für das Pussyhut Project oder monumentale Bildteppiche sind ideal, um politischen Botschaften Gehör zu verschaffen.
Das Textile erlebte durch die Corona-Pandemie plötzlich viel Aufmerksamkeit. Von einem Tag auf den anderen geriet die Welt völlig aus den Fugen. Alltägliches kam zum Erliegen. Ob aus Angst oder Solidarität: Gefühlt produzierte ganz Deutschland auf einmal Mundschutz-Masken. „Nähfluencer"² begannen, die Masken in Heimarbeit zu nähen. Unternehmen wie die TRIGEMA³ stellten auf die industrielle Fertigung des Gesichtsschutzes um, statt wie bisher Sport- und Freizeitbekleidung herzustellen. Die anfängliche händische Maskenproduktion erinnerte an den weiblichen Kriegsdienst im zweiten Weltkrieg, bei der bedingungslos und
aufopfernd die Soldaten aus der Ferne unterstützt werden sollten. Zudem ließ Corona alte Rollenmodelle neu aufleben. Auf die zunehmenden Unterschiede zwischen den Geschlechtern, die sich in der Pandemiezeit verstärkten, verwies die Hans-Böckler-Stiftung: Diese sprach sogar von einem „Rückschritt“⁴ in der Gleichstellungzwischen Mann und Frau. Denn es waren überwiegend Frauen, die ihre Arbeitszeiten herunterfahren mussten, um die Kinder, bedingt durch Kita- und Schulschließungen, zu betreuen. Die Mehrfachbelastungen der Frauen durch ihre Doppelrolle als Mutter und Berufstätige trat zu Tage.
Im Ergebnis folgte die Rückkehr zu alten Rollenmodellen und der klassischen, geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung⁵ wie es sie bereits in Webereien des 19. Jahrhunderts gab: Bedingt durch das Ausbreiten neuer Textiltechniken beendeten Frauen ihre Mitarbeit in den Webereien und kehrten „als Hausfrau und Mutter ins Haus zurück“⁶, damit Handweber ihre Positionen⁷ besetzen konnten. Geschlechtsverhältnisse müssen auch heute noch immer wieder neu ausgehandelt werden.
Hannah Ryggen ist keine Künstlerin der Gegenwart, doch ihre Werke sind von tagesaktueller Brisanz. Und obwohl sie eine der wichtigsten Künstler*innen Skandinaviens ist, ist ihr Œuvre im deutschsprachigen Raum kaum bekannt. 2020 präsentierte die Schirn-Kunsthalle in Frankfurt ihre gewebten Manifeste in einer Einzelausstellung.
Mit Fingerspitzengefühl machte sich Ryggen auf in eine Zeit der Moderne und hinterfragte verkrustete Vorurteile und gesellschaftliche Tabuthemen laut, mutig und farbgewaltig. Machtmissbrauch, Gewaltherrschaft, ungerechte Rollenbilder – Themen von globaler Tragweite – hielt sie auf Wandteppichen fest, die an die Monumentalmalerei von Eugène Delacroix erinnern. Die Statements, die Hannah Ryggen in ihren traditionell-textilen Wandgemälden sendete, könnten heute von Demonstration zu Demonstration getragen werden, bis ihre Botschaften Realität werden. Botschaften, wie wir sie direkt auf die Auswirkungen der
Corona-Pandemie und deren Wirkung auf die Rolle der Frau als Hausfrau, Mutter und Berufstätige übertragen können.
„Der Aktivismus der Kunstszene ist derzeit unübersehbar.“
Catrin Lorch, Süddeutsche Zeitung, 20. Mai 2021.
2. 1. 1. Aktivistische Kunst
Künstler*innen reflektieren, was die Welt umtreibt. Im Mai 2021 stellte die Süddeutsche Zeitung fest, dass sich die Kunst „gerade massiv politisch gibt.“⁸ In der Phase, in der Kinos, Museen und Theater pandemiebedingt geschlossen waren, brachte Wolfgang Tillman die Aktion „#2020solidarity“⁹ auf den Weg, deren Einnahmen an die von Corona gebeutelte Musikszene¹⁰ gingen. Adrian Piper befindet sich auf einer Reichsbürger-Demonstration, vor der Brust und auf dem Rücken trägt sie einen Protestbanner als „Hilfsmittel gegen Bösartigkeit oder Voreingenommenheit“¹¹.
Ihre Konfrontation erinnert an Mo Asumang, die für ihr Buch „Die Arier“ als farbige Frau auf
echtsradikalen Demonstrationen das direkte Gespräch suchte. Auf schwarzem Untergrund prangt die Formel ≤15:1 (Abb. 1). Ihre Botschaft: „Keine Klasse, kein Seminar, keine Vorlesung dürfe größer sein als fünfzehn Schüler oder Studierende“¹².
In ihrem Manifest fordert Piper als Ergebnis kleinere Gruppengrößen für mehr Raum zum Hinterfragen von Fakten und zum Ausbilden der eigenen Meinung. Die Künstlerin bezieht aktiv Stellung zur Pisa-Studie, die eine fehlende Medienkompetenz der deutschen Schüler nachweist: Beim Lesen eines Textes sei die Hälfte nicht in der Lage, Fakten und Meinungen voneinander trennen¹³ zu können. Lorch bezeichnet aktivistische Künstler*innen wie Piper als „Pressure-Groups, deren Themen in die Kunst einziehen, die mehr sind als Sujets“¹⁴
Die Statements von Tillmann und Piper und ihre eingesetzten Medien wollen erzählen und überzeugen. Ihre Arbeiten zielen darauf ab eine Veränderung im Einzelnen oder in einer ganzen Gesellschaft hervorzurufen. Ihr Vorgehen kann nach der Definition von Roggeband und Klandermans als aktivistisch gelesen werden, da die Künstler*innen sich mit ihren „geäußerten Bestrebungen, Kampagnen und Handlungen für eine gesellschaftliche Veränderung“¹⁵ einsetzen.
Auch die Aktivistinnen der russischen Band „Pussy Riot“ bedienten sich einer Protestgestik in textiler Form (Abb. 2), als sie Wladimir Putin zum 68. Geburtstag gratulierten. Sie hängten in Moskau Regenbohnenfahnen auf (Abb. 3) – an russischen Verwaltungsgebäuden¹⁶. Mit ihrem Einmischen nutzen sie die Regenbogenfahne gleichzeitig als „ein Symbol für die fehlende Liebe und Freiheit“¹⁷. Immer wieder fordert die Band den Staat dazu auf, Minderheiten vor Diskriminierung zu schützen.
„Bitte liebt Österreich – Ausländer raus!“: Den Finger in die Wunde legte auch Christoph Schlingensief, als er 2000 über sechs Tage verteilt 12 Asylbewerber, ähnlich wie dem TV-Format Big Brother, in einem Container im Herzen Wiens postierte, dessen Innenleben rund um die Uhr beobachtet¹⁸ werden konnte. Zwei der zwölf Bewohner sollten die Zuschauer aus dem Container wählen, um sie abzuschieben. Nicht nur im Container stieg die Temperatur auf bis zu 40 Grad, auch davor brachen hitzige Tumulte, Demonstrationen bis hin zu
Brandstiftungsversuchen¹⁹ aus.
Der Hintergrund der Installation war die FPÖ, die mit ihrer Nähe zum Rechtsradikalismus dabei war, in die österreichische Regierung einzuziehen. Die Kunstaktion bediente sich mehrerer Elemente aus dem Aktivismus: Sie wollte Impact generieren sowie Reichweite und Aufmerksamkeit erzielen. Mit einem großformatigen Baucontainer, der nicht zu übersehen war, kalkulierte Schlingensief Konsequenzen wie hagelnde Kritik, rechtsradikal motivierte Gewalt oder strafgerichtliche Verfolgung ein.
Das Medium „Container-Installation“ diente Schlingensief als Träger seiner Botschaft: Um sein Anliegen sichtbar zu machen, brachte Schlingensief sein Werk in den öffentlichen Raum und ließ die Öffentlichkeit in einer sich selbst entblößenden Form partizipieren – die Reichweite der Medien sorgte dann für eine weltweite Sichtbarkeit von Wut, Hass, Solidarität und Angst im Umgang mit dem Thema Asyl.
1 Crasemann, Leena/Anne Röhl: HARD-PRESSED: ZUM TEXTILEN AKTIVISMUS, 1990–2020: Einleitung,
in: FKW // Zeitschrift für Geschlechterforschung und visuelle Kultur, Nr. 68, 2020, https://www.fkw-
journal.de/index.php/fkw/article/view/1507/1517, abgerufen am 27. Juli 2021, S. 14.
2 Crasemann/Röhl, 2020, S. 6.
3 Eine Pressemitteilung der TRIGEMA vom 20. März 2021 titelt „TRIGEMA stellt Behelfs-Mund- &
Nasenmaske her – Große Solidarität schlägt uns entgegen“, siehe https://www.trigema.de/magazin/trigema-stellt-behelfs-mundschutz-her/ (abgerufen am 27. Juli 2021).
4 Hans-Böckler-Stiftung: Gleichstellung: Rückschritt durch Corona, in: https://www.boeckler.de/, o. D., https://www.boeckler.de/de/boeckler-impuls-ruckschritt-durch-corona-23586.htm (abgerufen am 27.07.2021).
(...)
8 Lorch, Catrin: Ästhetik des Widerstands, in: Süddeutsche Zeitung, 20.05.2021,
https://www.sueddeutsche.de/kultur/poitische-missstaende-kunstszene-adrian-piper-1.5298464 (abgerufen am 02.08.2021).
9 “2020Solidarity” bot Poster von über 40 Künstler*innen als Merchandise mittels Startnext-Kampagne an, siehe https://www.startnext.com/renate-needs-help-nothing-else/blog/beitrag/2020solidarity-by-wolfgang- tillmans-und-between-bridges-p87464.html (abgerufen am 4. August 2021).
10 Vgl. Lorch, 2021.
11 Zekri, Sonja: Adrian Piper: Was gegen das Böse hilft, in: Süddeutsche.de, 20.05.2021,
https://www.sueddeutsche.de/kultur/bildung-kunst-adrian-piper-1.5298306 (abgerufen am 04.08.2021).
12 Zekri, 2021.
13 Ebenda, 2021. 14 Lorch, 2021.
14 Lorch, 2021.
15 Crasemann/Röhl, 2020, S. 17.
16 Vgl. Pussy Riot hängt Regenbogenflaggen in Moskau auf: in: Monopol, 08.10.2020, https://www.monopol-magazin.de/pussy-riot-haengt-zu-putins-geburtstag-regenbogenflaggen-moskau-auf?slide=1 (abgerufen am 04.08.2021).
17 Pussy Riot hängt Regenbogenflaggen in Moskau auf, 2020.
18 Vgl. Moldenhauer, Benjamin: Schlingensiefs Asyl-Container: „Du deutsche Sau, du! Du Künstler!“, in: DER SPIEGEL, Hamburg, Germany, 28.12.2015, https://www.spiegel.de/geschichte/christoph-schlingensief-der-asylbewerber-container-in-wien-a-1065826.html (abgerufen am 04.08.2021).
19 Vgl. DAILIES - Die Neue Lagerzeitung: in: Neue Lagerzeitung, o. D.,
https://www.schlingensief.com/backup/wienaktion/html/archiv00.html (abgerufen am 04.08.2021).
Foto: unsplash/Sergio Gonzalez
Comments